Ein Kommentar von Prof. Dr. Stephanie Birkner, Beiratsmitglied von startup.niedersachsen.
Gemeinsam mit vielen anderen da draußen unterwegs auf der #flattenthecurve Mission (#MenschensindLava) verbringe ich aktuell viel Zeit in einem klar eingegrenzten analogen Raum damit, mich auf recht unterschiedliche Art und Weise mit der Weite digitaler Bildungsräume auseinanderzusetzen.
Als sozialwissenschaftliche Forscherin habe ich das Glück, dass ich meinen Beruf nahezu orts- und zeitunabhängig ausüben kann. Und auch unser Familienplan zum Arbeiten im Schichtsystem pendelt sich immer besser ein. So verbringe ich die Nachmittage und Abende damit, mich mit Kolleg*innen abzustimmen, wie wir unsere Lehrangebote besser bzw. überhaupt erst einmal digitalisieren können. Mit anderen führe ich interdisziplinäre Diskurse fort, ob die sogenannte Digitalisierung nun „die Welt rettet oder ihren Untergang herbeiführt“ und was/wer die „Gestalten der Zukunft“ seien mögen.
Die Förderung und Unterstützung digitaler Bildungspraktiken gilt als zentrales Element einer nachhaltigen Transformation in eine zukunftsfähige Gesellschaft. Ökonomisch nachhaltig, weil Sie für eine Erhaltung, unter Umständen sogar Erweiterung, der Innovationsfähigkeit stehe. Sozial nachhaltig, weil sie – sofern gleichberechtigt aufgestellt – inklusive Teilhabe an Bildung eröffne. Ökologisch nachhaltig, weil sie neue Formen und Zugänge der Bildung für nachhaltige Entwicklung ermögliche.
Das deutsche staatliche Bildungssystem steht meiner Wahrnehmung nach in diesem Zusammenhang vornehmlich vor drei Um- und Durchsetzungsherausforderungen:
- Geringe Verfügbarkeit von digitaler Infrastruktur an Bildungsinstitutionen sowie teilweise auch bei den Lernenden
- Mangelnde Fortbildungsmöglichkeiten zum Thema Digitalkompetenz von Lern-Begleiter*innen (Lehrenden) und Bildungsmanager*innen
- Unzureichende Förderung der (Weiter-)Entwicklung von technologischen Innovationen für das Bildungssystem
Die erste gute Nachricht
Wir müssen uns hier in Deutschland überhaupt nicht als erste ins kalte Wasser stürzen, sondern können von anderen lernen. Zum Beispiel Estland macht vor, wie es gehen kann.
Die zweite gute Nachricht
In Zeiten von (Hoch-)Schulschließungen in Deutschland wird deutlich, wie diese Herausforderungen wirksam werden. Gerade jetzt eröffnet sich eine große Chance die Problemlage in ihren Details besser zu verstehen, um sie unternehmerisch anzugehen.
Und hier kommen meine Vormittage ins Spiel:
Als Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern bin ich Startups im Bildungsbereich einfach nur so was von unendlich dankbar. Sie sind es, die in der aktuellen Situation für uns Eltern das Überleben im Alltag zwischen neudeutsch „Homeschooling“ und „Homeoffice“ vielfach erst möglich machen und damit für das staatliche Bildungssystem Bildung rocken. Hier einige Beispiele dieser Bildungsheld*innen aus meinem eigenen Alltag: Erklärvideos dank simpleclub Lernmanagement mit Skills4School, Tutoring durch Daniel Jung Academy, Programmieren üben mit der Digitalwerkstatt oder bei startupteens sowie Lern-Apps von Gründer*innen hier direkt vor meiner niedersächsischen Tür wie Maphi, QuizCo oder VocabiCar entwickelt von Quantumfrog.
Ich bin absolut nicht dafür, jegliche Form des Lernens komplett in den digitalen Raum zu verlegen. Gleichzeitig bin ich aber ebenso der festen Überzeugung: Digitale Bildung bietet unglaubliche Chancen für unsere Gesellschaft. Zum einen indem sie uns und unsere Kinder eröffnet, digital mündige Bürger*innen zu sein/werden. Zum anderen in dem sie Kompetenzen in den Fokus stellt, die klassische Lehr-Lern-Formate nicht oder nicht ausreichend abdecken.
Die dritte gute Nachricht
Was als wichtige Grundlage hierzu im EdTech-Entwicklungs-Zirkel des Hochschulforum Digitalisierung diskutiert wird, gibt es bereits als gelebte Realität: Die Entwicklung und Initiierung von Programmen an denen mehrere Ministerien und die Praxis beteiligt sind.
Die großartige Möglichkeit eine solche Realität persönlich zu erleben und mit zu gestalten habe ich gerade als Mitglied des Beirats von startup.nds. Dort treffen – in anderen Fällen häufig getrennt voneinander agierende – Welten produktiv mit einem gemeinsamen Ziel aufeinander: Digitalisierung, unternehmerisches Denken & Handeln sowie Bildung nicht nach Ressorts verteilt, sondern als gemeinsame Handlungsfelder gemeinsam zu entwickeln. Dort diskutieren Vertreter*innen aus dem Wirtschaftsministerium, dem Ministerium für Wissenschaft und Kultur und Praktiker*innen, wie man für wichtige und gute Initiativen in Deutschland (z.B. der DigitalPakt Schule) eine unternehmerische Gemeinschaft schafft, die eben jene Innovationen hervorbringt, die für die Umsetzung der Initiativen wichtig und notwendig sind. Eine wesentliche Erkenntnis: Insbesondere das Umfeld der Gründungen aus Hochschulen bietet hier viel Potenzial. Wo sonst haben Menschen mit Fachwissen aus den unterschiedlichsten Disziplinen so kurze Wege, um im Lehr- und Forschungsalltag zu Fragen der digitalen Bildung in den Austausch zu kommen und gemeinsam Ideen zu entwickeln.
Es hilft jedoch nichts, wenn es allein bei den Ideen bleibt. Mein Engagement im Beirat macht mir immer wieder deutlich: Es gibt trotz all der formulierten guten Nachrichten noch viel zu tun. So stellt auch Mike Raschke vom Hochschulforum Digitalisierung fest: „Es scheint, als existierten das deutsche Hochschulsystem und EdTech Startups in zwei Paralleluniversen mit komplett unterschiedlichen Arbeits- und Denkweisen.“ Mit Bezug auf Zahlen aus dem EY Start-Up Barometer verweist Ulrich Schmid, Leitung des von der Bertelsmann Stiftung geförderten Projektes „Monitor Digitale Bildung Deutschland: Schule, Hochschule, Aus- und Weiterbildung“, zudem darauf: EdTech rangiert beim Fördervolumen an vorletzter Stelle in Deutschland. Beunruhigender sei hier nur noch, dass der Trend von Finanzierungsvolumen und -runden insgesamt zwar zunimmt, im EdTech aber rückläufig ist. (Wer mehr zum Thema „1% für EdTech in Deutschland“ auch im europäischen Vergleich erfahren möchten, kann hier nachlesen – interessant auch die Gedanken dazu, wie EdTech besser in Deutschland gefördert werden könnte.)
Auch wenn ich mich ehrlicherweise als „digitales Spielkalb“ outen muss – mich reizen neue Technologien und ich teste mit Vorliebe gemeinsam mit meinen Kindern Lernapps sowie mit den Studierenden neue digitale Bildungsformate – das, was die digitale Transformation des Bildungssystems braucht, sind mehr als rein technologische Innovationen.
Die aktuelle Corona-Krise zeigt es gerade in verheerendem Ausmaß: Neueste Entwicklungen digitaler Technologien führen nicht weit, wenn wir Menschen sie mit unserem Alltagsverhalten konterkarieren. Weder der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (oder auch Maschine/Deep Learning) noch digitalisierte Diagnostik- und Therapieverfahren können gerade in dem Maße aufhalten, was wir als Gesellschaft durch unser (Hygiene-)Verhalten beeinflussen könn(t)en. Es hilft auch der beste Algorithmus nicht, wenn es darum geht solidarisch auf den eigenen Vorteil zu verzichten und sich auf eigentlich für selbstverständlich angenommene Alltagspraktiken (Stichwort: „Waschen sie Ihre Hände – mit Seife!“) zu besinnen.
Mathias Horx, Gründer des Zukunftsinstitut, nimmt in seinem Beitrag „Die Welt nach Corona“ die Leserschaft mit auf eine Zukunftsreise, die anstelle einer Pro-Gnose als Re-Gnose eine Idee davon entwirft, wie sich unsere Gesellschaft nach der Krise verändert haben könnte. Seitdem ich diesen Beitrag gelesen habe, treibt mich die Frage um, wie sich unsere Idee von (guter) Bildung gerade wohl verändert.
Mit großer Neugierde beobachte ich daher Initiativen wie DISCO- digital school of knowledge, die aus der Not eine Tugend machen und sich aus der Gesellschaft für die Gesellschaft dem Thema „digitale Bildung“ annehmen. Diese Beobachtungen machen mir Mut und Sorge zugleich. Mut, weil es Menschen in unserer Mitte gibt, die den aktuellen digitalen Bildungsbedarf unternehmerisch angehen. Sorgen, weil unser Gründungsökosystem in Deutschland weiterhin noch eine sehr enge Vorstellung davon hat, was gutes Unternehmertum ist und was Menschen auszeichnet, die erfolgreich gründen.
Damit das Bildungssystem aus der aktuellen Krise gestärkt hervorgehen kann, ist es in meinen Augen notwendig, dass das Verständnis dafür wächst, dass Bildungsinnovationen Raum brauchen für eine andersartige Kultur des Lernens, eine Vielfalt an Idee davon, wo, wie und wann (digitales) Lernen in der Gesellschaft stattfinden kann und auch welche Inhalte dazu gehören. Es braucht (Frei-)Räume, in denen das Wert(e)versprechen von Bildung neu gedacht werden darf und in denen unternehmerisch ausprobiert werden kann, welche digitalen Technologien hierbei Nutzen stiften. So und nicht andersherum! Es braucht ein Gründungsökosystem, das den Mehrwert von Geschäftsmodellen nicht nur in neuartigen Technologien sucht und findet, sondern Innovationen in einer vielfältigeren Weise im wahrsten Sinne des Wortes wertzuschätzen weiß.
In dem Sinne: Die Bildung ist tot. Es lebe die Bildung!