Mit Tracking über Nacht zum lange ersehnten digitalen Deutschland?

Eine Tracking-App soll dem Vernehmen nach eine wesentliche Rolle spielen, wenn in Zukunft über eine Lockerung der bestehenden Corona-Verhaltensregeln in Deutschlandentschieden wird. Kann man dazu schon eine Meinung haben? Noch sind wesentliche Aspekte unklar – technische, datenschutzrelevante und vor allem auch, ob uns der Einsatz empfohlen wird oder ob wir dazu gezwungen werden. Weil hierzu die Diskussion – wenn auch mit bis vor Kurzem noch unvorstellbaren Positionen – in vollem Gange ist, wollen wir an dieser Stelle die erste Gedanken von digitalen Vorreitern aus Niedersachsen spiegeln:

Erster Gedanke: Seit jetzt über drei Wochen halten sich Millionen Menschen in Deutschland an die Vorgaben der Behörden. Für viele bedeutet dies: Zuhause mit den Kindern, kein Spielen im Freien, keine Verabredungen mit Mitschülern, große Unsicherheit, wie es weitergeht, was nach dem 20. April kommt. Diese Menschen haben sich, ohne dass sie überwacht wurden oder für ihr Verhalten belohnt wurden, an die Regeln gehalten. Ihnen ist zuzutrauen, dass sie das auch in Zukunft tun werden, wenn sie das Haus wieder verlassen dürfen und beispielsweise bestimmte „Hygieneregeln“ für alle weiter gelten.

Zweiter Gedanke: Wenn dieser Tage zu lesen ist, der Einsatz von Tracking-Apps in China, in Südkorea oder in Singapur habe dafür gesorgt, dass man das Virus in den Griff bekommen hat, dann kann einem die Luft weg bleiben. China als digitales Vorbild? Südkorea und der dortige Datenschutz als Vorbild? Singapur als Vorbild, wo aktuell die Sorge vor einer nächsten Infektionswelle zu neuen Einschränkungen führt? Wenn wir uns bei unserem Weg zu einem digitaleren Deutschland an Asien orientieren, dann sind wir auf dem Holzweg. Geben wir nicht dann wesentliche Säulen unseres Demokratieverständnisses auf? Wäre es dann nicht besser, weiter ein digitales Schwellenland zu bleiben?

Dritter Gedanke: Im Handelsblatt wird dieser Tage der digitalpolitische Sprecher der CSU im Bundestag mit der Aussage zitiert, dass in einem „absoluten Notfall auch die Einschränkung von Datenschutzrechten kein Tabu“ sein dürfe, „insbesondere wenn dadurch andere Grundrechte zurückgewonnen werden“ könnten. So scheint insgesamt die überwiegende Haltung zu sein. Andere Digitalexperten in Berlin geben schon zu Protokoll, dass sie so eine App in jedem Fall herunterladen und einsetzen würden, ohne dass eine solche App und ihre Parameter überhaupt vorliegen. Wer achtet in dieser Zeit auf die Rechte der einzelnen? Wer achtet in aller Konsequenz auf den Datenschutz? Die Datenschutzbeauftragten scheinen es aktuell auch nicht mehr zu sein, denn die sind angesichts der Krise und dem damit verbundenen Bedarf an Pragmatismus von bisherigen Linien deutlich abgerückt.

Vierter Gedanke: Als vor einigen Tagen im Kontext der Änderung des Infektionsschutzgesetzes der Gedanke Raum griff, den Behörden die Möglichkeit zu geben, zum Zwecke der Nachverfolgung von Kontaktpersonen technische Mittel einzusetzen, war der Aufschrei groß. Viele Experten positionierten sich dagegen, auch aus Niedersachsen. Jetzt heißt es, dass Apps freiwillig installiert werden sollten. Das ist eine erste wesentliche Grundvoraussetzung, wenn man dem Tracking-App-Gedanken überhaupt näher treten will. Aktuell sind wir in Diskussionen allerdings schon wieder an dem Punkt, dass es heißt, nur wenn eine bestimmte Anzahl an Personen, rund 60% der Bevölkerung, die App, die es noch nicht gibt, nutzt, könnten die aktuell geltenden Einschränkungen gelockert werden. Ist dass dann der Zwang durch die Hintertür?

Fünfter Gedanke: Zu technischen Aspekten sind Experten gefragt. Der Bluetooth-Ansatz (https://www.pepp-pt.org/) ist nur ein Notnagel. So viel ist der aktuellen Diskussion zu entnehmen. Wenn man dürfte, als Entwickler, dann würde man andere Wege wählen. Überall mit einer offenen Bluetooth-Schnittstelle rumzulaufen, dürfte auch nicht sinnvoll sein. Aber müssen wir unseren Blick nicht vielmehr nach vorne wenden? Diese jetzt diskutierten Apps sollen ihren Nutzen dort entfalten, wo sie im Nachhinein eventuelle Infektionen identifizieren. Ist denn aber die Feststellung, „Ich habe kein Corona“ oder „In unserem Büro gibt es kein Corona“ nicht viel sinnvoller? Sollte die Power der Entwickler nicht eher darauf gerichtet sein, uns gegenseitig die Sicherheit zu geben, dass wir Kontakt unbeschadet überstehen werden? Das ganze dann in einem europäischen Kontext? Europa könnte so endlich seine Rolle in der Krise finden.

Sechster Gedanke: Wo wäre unser Land, wenn sich die Berliner Politik in den vergangenen Jahren mit soviel Vehemenz wie aktuell bei der Tracking-App um eGovernment, eSignatur, eVoting oder eHealth gekümmert hätte? Dürfen wir davon ausgehen, dass das jetzt innerhalb kürzester Zeit nachgeholt wird? Es beschleicht einen mindestens ein komisches Gefühl, wenn wir durch ein digitales Verfolgungswerkzeug eine größere politische Aufgeschlossenheit bekämen und vielleicht sogar ein digitaleres Land werden würden. Heiligt der Zweck die Mittel?

Da Niedersachsen.digital als Plattform die Meinungsbildung zu digitalen Themen in Niedersachsen unterstützen will, werden wir die Gedanken am Donnerstag, 08. April mit Experten diskutieren. Mit dabei sein werden:

Das Video des Gedankenaustauschs gibt es dann auf Youtube zu finden!

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