Daten managen für optimale Auslastung: Industrie 4.0 Best Practice aus Barsinghausen

schwarze Schachfigur mit Krone auf schachbrett

„Die Digitalisierung ist kein Selbstzweck, aber es gibt tausend gute Gründe für einen Mittelständler die Digitalisierung zu nutzen“, sagt Philipp Becker, Geschäftsführer der Vision Lasertechnik GmbH im niedersächsischen Barsinghausen. Der Erfolg gibt ihm recht.

Ausgangssituation

Philipp Becker ist ein Pionier in Sachen Industrie 4.0. Der Betriebswirt kam Anfang der 2000er-Jahre aus der Softwarebranche zur Vision Lasertechnik GmbH. Seit 2007 optimiert er die klassische Maschinenbauerin und eröffnet ihr neue Geschäftsfelder – und das mit Erfolg. Philipp Becker bezeichnet sich selbst als „hybride Lösung“. Er wollte digitale Lösungen für real existierende Produktivitätsprobleme finden: Immer wieder kam es im Unternehmen zu unnötigen Wartezeiten oder zum Stillstand, weil Material fehlte oder die Maschinen gewartet werden mussten.

Strategie

Der Wille zur Verbesserung hatte ein Umdenken innerhalb des Unternehmens zur Folge, so Becker. Alle Prozesse wurden bei der Vision Lasertechnik GmbH auf die Frage hin überprüft: Kann uns die Digitalisierung helfen effektiver und effizienter zu werden?

Im Jahr 2007, als die Vision Lasertechnik begann digitale Lösungen für Probleme zu suchen, gab es weder Schnittstellen noch passende Systeme oder Softwarelösungen auf dem Markt. Auch SAP konnte damals nur ein ERP-System anbieten, dass Soll-Werte der Auslastung listete. Ist-Werte von den Maschinen zurück zu bekommen, dass sei schlichtweg nicht vorgesehen gewesen, so Becker.

„Wir haben angefangen Stück für Stück alle am Produktionsprozess beteiligten Maschinen, aber auch das Personal, also alle Assets zu vernetzen und als Grundlage dafür ein eigenes System zum Wissensmanagement entwickelt.“

Geholfen hat Becker dabei sein Background. Entwicklungspartner für Hard- und Software wurde die Firma Bluebiz, die Becker selbst mit Kommilitonen gegründet hatte. Später kam auch SAP als Partner dazu. Die drei Firmen bieten inzwischen unter dem Namen „connected production“ eigene Produkte und Lösungen für die Industrie 4.0 an.

Retrofit-Schnittstellen

Der Eindruck, man müsse auf der grünen Wiese eine neue Smart Factory bauen, um Industrie 4.0 im Unternehmen zu etablieren, sei schlichtweg falsch, so Becker. „Wir haben den Maschinenpark, die Maschinen funktionieren hervorragend und wir möchten sie benutzen.“

Auch Maschinen, denen die entsprechenden Schnittstellen fehlen, können in die Smart Factory integriert werden. Aber wie bindet man die alten Maschinen in die Smart Factory ein? Vision Lasertechnik hat eine Lösung gefunden.

„Ich halte Retrofit-Lösungen für einen guten Start in die Smart Factory und für absolut notwendig.“

Keine der Maschinen, die bei Vision Lasertechnik nach und nach vernetzt worden sind, hätten schon vorher die benötigten Schnittstellen gehabt. „Wir haben einfach angefangen und haben Smart-Energy-Boxen an die Stromanschlüsse gebaut. Das sind Adapter und Konverter mit einer speziellen Sensorik“, so Becker.

Datenanalyse und -verarbeitung

Die Datenmengen, die durch diese überschaubare Implementierung angefallen sind, seien schier „gigantisch“ gewesen, so Becker und die Analyse der Software wurde durch den konstanten Datenstrom immer genauer. Doch wie kommt das Unternehmen ohne Schnittstellen an die Daten?

Das Kernstück der Smart Factory bei Vision ist die Software SmartMES Analytics. Dieses System ist eine Kombination. Ein Teil ist das SmartMES, also ein Manufacturing Execution System das die Fertigungsaufträge überwacht und Informationen bereit stellt. Der andere Teil namens bluelytics sorgt dafür, dass alle ankommenden Daten in Echtzeit verarbeitet werden.

Zusammen mit historischen Daten aus dem Data Storage kann das integrierte Machine Learning unmittelbar Vorhersagen, Anpassungen und Muster berechnen. Dadurch werden zum Beispiel Aufträge so an Mitarbeiter verteilt, dass sie besonders effizient abgearbeitet werden können.

Wissensmanagement

Für die Mitarbeiter und den reibungslosen Ablauf der gesamten Produktion sei es wichtig, die Daten verständlich aufzubereiten, damit jeder etwas damit anfangen und auch kommentieren kann. Vorbild bei Vision Lasertechnik waren soziale Netzwerke.

„Es gibt einen Like-Button für nützliche Informationen, damit kann jeder Mitarbeiter umgehen.“

Gewollt war eine bidirektionale Kommunikation: Die Mitarbeiter sollten die Auftrags- und Maschinendaten sehen können, die für ihre Arbeit wichtig sind, aber zugleich auch eigene Kommentare, Nachrichten und Bilder an das System senden können, damit andere Mitarbeiter diese wichtigen Informationen finden.

„Tablets und Wearables erlauben mehr Freiraum für die Mitarbeiter und eine reibungslose Produktion“. Es wurden Tablets und Smart Watches angeschafft, über die die Mitarbeiter Informationen empfangen und senden können. Das Wissensmanagement der Firma ist somit immer am Mann oder der Frau.

Man braucht dafür keine spezielle Hardware, sagt Philipp Becker: Es werde zwar immer wieder auf Messen dazu geraten, industrielle Touch-Monitore zu verwenden, die hätten aber sehr lange Lieferzeiten und seien im Verhältnis sehr teuer.

„Tablets und Smart Watches aus dem Consumer Bereich funktionieren und sind günstig neu zu beschaffen.“

Geo-Fencing

Ein aktueller Schwerpunkt der Entwicklung bei Vision ist die „Inter- und Intralogistik“. Angefangen habe alles mit zwei verschwundenen Gitterkisten voller Drehteile für einen Kunden, die einfach nicht mehr auffindbar waren.

„Die Gitterboxen wiegen gefüllt ungefähr eine halbe Tonne. Die können sich nicht in Luft auflösen.“

Die Folge war, dass die Teile für den Kunden neu produziert werden mussten. Drei Wochen später seien die verschwundenen Teile dann am Unternehmensstandort in Chemnitz aufgetaucht. Das war Grund für die Einführung eines Geo-Fencing-Systems.

Mit einem Tracking-System wird seitdem ein virtueller Zaun, um die Produktionshallen gelegt, der mittels Sensoren an Material- oder Warenkisten erkennt, wo sich die jeweilige Kiste gerade befindet.

„Das war der Zeitpunkt, als ich das Papier aus unserer Fertigung verbannt habe.“

Der Arbeitsplan sieht die Reihenfolge Vorbereitung, Zerspanung, Qualitätskontrolle und Versand vor. Falls eine Kiste im Versand auftaucht, die eigentlich vorher noch in die Qualitätssicherung müsste, gibt es einen Alarm.

Becker glaubt nicht, dass ihm die Ideen für die Weiterentwicklung seines Unternehmens so schnell ausgehen.

Motivation

Eine funktionierende Smart Factory sei nur dann möglich, wenn es gelinge die Belegschaft zu motivieren, den eingeschlagenen Weg mitzugehen, so Becker. Das schaffe man nur, wenn man mit den Mitarbeitern spreche und diese definieren lasse, wo ihre Probleme im Prozess liegen.

„Jeder Mitarbeiter möchte abends nach Hause gehen und das Gefühl haben, er hat viel geschafft und das hat reibungslos geklappt.“

Das klappe aber eben nicht immer und teilweise sind dann Prozesse vor der Produktion oder technische Probleme in der Produktion verantwortlich dafür, dass Mitarbeiter das Soll nicht erfüllen können. „Wenn Sie diese Probleme mit Hilfe der Digitalisierung lösen, dann gehen die Mitarbeiter mit. Sie müssen ihre Vorteile möglichst schnell sehen“, so Becker.

Für den eigentlichen Arbeitsprozess sei es ihm sehr wichtig gewesen, dass sich die Software der Industrie 4.0-Anwendungen genauso bedienen lässt, wie es die Mitarbeiter von den eigenen Geräten aus der Freizeit kennen.

Es soll keine aufwendigen Masken oder Buttons geben, auf die der Mitarbeiter nicht klicken darf. Er soll nur die Informationen bekommen, die er an dem jeweiligen Arbeitsplatz gerade braucht. „Da orientieren wir uns sehr stark an den sozialen Medien und Plattformen, die auf dem Markt erfolgreich sind.“

Arbeitsprozess

Das Anliegen von Philipp Becker ist, dass sich der Arbeitsprozess der Mitarbeiter möglichst wenig verändert und wenn, dann vereinfacht: „Am eigentlichen Tagesablauf ändert sich zunächst mal nichts. Durch die Prozesse im Hintergrund ermöglichen wir den Mitarbeitern, dass sie während ihrer Arbeitszeit auch wirklich arbeiten können.“

Einen Nachteil räumt Becker allerdings ein: Wermutstropfen der Pionierarbeit bei Vision Lasertechnik sei, dass die Mitarbeiter viele Experimente mitmachen müssen und vieles in einer Beta-Version testen, die noch anfällig für Fehler ist. Das gehöre aber mit zu dem Agreement zwischen Chef und Belegschaft:

„Ich habe immer wieder gesagt, dass ich die Software nicht nehmen werde, um Personal einzusparen. Ich erwarte dafür aber, dass alle den Weg mitgehen.“

Schulung/Weiterbildung

Trotz der rasanten Digitalisierung bei Vision Lasertechnik ist der Schulungsbedarf nicht sehr hoch. „Nach Updates muss man sich hin und wieder mal kleine Änderungen von den Softwareentwicklern erklären lassen“, so Oliver T., Mitarbeiter bei Vision Lasertechnik.

Da die Firma eigene Softwareentwickler beschäftigt, seien die Wege aber kurz. Die Software ist intuitiv und leicht zu bedienen, der Schulungsaufwand bleibt damit gering.

Keine besonderen Weiterbildungen aber eine generelle Bereitschaft den Wandel mitzugehen und sich für die Technologien zu interessieren müsse bei den Mitarbeitern vorhanden sein, sagt Philipp Becker. Er glaubt daran, dass die Digitalisierung nur dann Arbeitsplätze vernichtet, wenn die Facharbeiter sich nicht mit verändern.

Lessons learned

Philipp Becker hatte von Anfang an den Glauben daran, dass die Digitalisierung der richtige Weg für viele Herausforderungen im Unternehmen ist. Trotzdem gab es „so viele Punkte, die man vorher nicht planen kann.“ Das mache es schwer, vor allem in der Kommunikation mit dem Management und den Mitarbeitern.

An vielen Stellen sei der Weg anfangs nicht mit Fakten zu begründen gewesen, ein Return of Investment ausrechnen gar unmöglich. Deshalb brauche man das Vertrauen der gesamten Mannschaft. Hier sei es wichtig, kleine Schritte zu gehen und Erfolge spürbar zu machen.

Inzwischen ist sich Becker aber sicher, dass er nicht mehr so arbeiten möchte, wie bei Vision vorher gearbeitet wurde. Die gesamte Produktion ist planbarer geworden. Dadurch ist das Arbeiten für ihn und seine Mitarbeiter flexibler und es warten weniger böse Überraschungen.

Für die Firma ist wichtig, dass nicht nur die Auslastung der Maschinen, sondern alle Prozesse im Unternehmen effizienter geworden sind. Unnötige und unbezahlte Wartezeiten gehören nahezu vollständig der Vergangenheit an.

„Das ganze Projekt hat viele schlaflose Nächte verursacht, macht die Arbeit und den Erfolg des KMU inzwischen aber einfacher und planbarer. Das wiederum führt jetzt zu einem ruhigeren Schlaf.“

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